Stickerei in der Ur- und Frühgeschichte

 

 

Die Quellenlage für den Nachweis von Stickerei und erst recht einzelner Sticktechniken wie Kreuzstich ist für die Ur- und Frühgeschichte in Mitteleuropa nördlich der Alpen außerordentlich schwierig. Geschriebene Quellen bzw. Überreste aus dieser Zeit existieren mangels genereller Abwesenheit von Schriftlichkeit nicht. Von daher kann man nur auf Überreste aus den prähistorischen Pfahlbausiedlungen (5.-1. Jahrtausend v.Chr.) und den Salzminen der Hallstattkultur (ca. 800-400 v.Chr.) sowie Textilien, die durch Korrosion der Metalle, die sie umwickelten, erhalten wurden[1].  In den Pfahlbaufunden blieben „dank der dauerfeuchten Sedimente […]nämlich organische Reste wie Samen und Früchte, Bauhölzer, Holzartefakte, Tierknochen, aber eben auch feinste Geflechte und Gewebe unter Luftsauerstoff-Abschluss über die Jahrtausende hinweg erhalten. Anhand der Jahrringdatierungs-Methode, der sog. Dendrochronologie, können diese Hinterlassenschaften zudem sehr genau datiert werden.“[2]

 

„Die seltenen erhaltenen, zum Teil über 5500 Jahre alten Fragmente zeigen eine Beherrschung des Handwerks, hervorragende Kenntnisse bei der Materialwahl und komplizierte technische Abläufe“[3]. Trotz des zum Teil guten Erhaltungszustands sorgen die Funde jedoch für wissenschaftliche Kontroversen, die trotz der Erkenntnisse der experimentellen Archäologie für Zündstoff sorgen.

 

Aufgrund der Funde ist unbestritten, dass bereits seit dem Paläolithikum (bis 6000 v. Chr.) Nadeln mit Öhren existierten. Sie waren aus Holz, Knochen, Horn, Kupfer und später Bronze hergestellt[4]. „Die bronze-, urnenfelder- und hallstattzeitlichen Textilien weisen ein breites  Spektrum an Feinheiten, Bindungsarten, Mustern und Farben auf. Weiters (sic!) geben uns die Textilien durch die verschiedenen Säume, Nähte, Ziernähte und Flickungen Auskunft über Nähtechniken“[5]. Grömer hebt hervor, dass  „spätestens ab der Bronzezeit […] die Nähkunst mit verschiedenen Sticharten bereits voll entwickelt“ ist und dass es „im Prinzip schon alle Techniken [gibt], die in der Handnäherei bis in vorindustrieller Zeit, gar bis heute, üblich sind“[6].  Als gängige Nähtechniken nennt Grömer den Überwendlingsstich, Saumstich und Vorstich[7] und Mautendorfer nennt auch neben dem Stopfen und Flicken das Annähen von dekorativen Elementen als eine Aufgabe der Näherei.[8]

 

 

Spätneolithisches Textil von Murten, Schweiz. Gewebe mit aufgenähten Fruchtkernen

 

Seit dem Neolithikum gab es den Webstuhl[9], der als die erste Maschine der Menschheit gelten darf. Neben der Herstellung von Geweben mit unterschiedlichen Bindungen wurde auch die Technik des „Fliegenden Fadens“ verwendet, die erlaubte, während des Webvorgangs weitere Muster in das Gewebe einzubringen[10].  Zur Herstellung von Borten wurde vorwiegend die Brettchenwebtechnik verwendet[11], zu der Johanna Banck-Burgess ein Beispiel aus der Älteren Eisenzeit, dem Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf (um 550 v.Chr.), bietet[12]:

 

 

Überrest der Borte aus dem Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf

 

 

Rekonstruktion der Borte aus dem Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf

 

Die oben erwähnten wissenschaftlichen Kontroversen konzentrieren sich zu einem großen Teil auf die Frage, ob bestimmte Textilfunde Stickereien aufweisen oder ob die Muster mit der Technik des „Fliegenden Fadens“ eingewebt worden sind. Als ein Beispiel ist hier ein Textilfund aus einer Pfahlbautensiedlung bei  Pfäffikon-Irgenhausen (Schweiz) zu nennen, das in der Zeit von 1700-1440 v.Chr. entstanden ist.

 

 

Aufschlüsselung des Musters des Textilfundes aus Irgenhausen, Abb. a, c und e zeigen die Führung der Stiche,

Abb. b, d und f zeigen das Erscheinungsbild auf der Vorderseite des Stoffes

 

 Rekonstruktion des "Kunstgewebes" aus Irgenhausen

 

Karina Grömer beschreibt 2010 und 2016[13] dieses Textil als „The fine linen was woven, then decorated with embroidery. The rich pattern consists of chessboard-patterns, triangles and stripes. Older dyestuff analysis proves that the patterns were carried out in blue, red, violet and yellow on a natural white linen ground weave.“[14] Sie beschreibt die Sticktechniken als eine „Kombination[en] aus Stiel-, Rück, Vor- und einer Art Kreuzstich“[15] und beruft sich dabei sowohl auf Antoinette Rast-Eicher als auch auf Emil Vogt, der 1937 das Fundstück als erster detailliert beschrieben hat.  Er „bezeichnete es […] als broschiert mit Dreiecken und Schachbrettmustern. Er gibt auch in Schemazeichnungen die komplexen Fadenführungen wieder – sie flottieren teils in Schussrichtung, teils in Kettrichtung, aber auch schräg. Der Richtungsverlauf ist von den verschiedenen Musterfeldern abhängig, sehr variationsreich und aufwändig. Die Musterung besteht aus großen gefüllten Dreiecken, getrennt durch horizontale Bänder mit schachbrettartigen Mustern, eingefasst von Bändern in Schachbrettmuster.“[16]Johanna Banck-Burgess fügt als weiteres Argument aus der Argumentation Rast-Eichers an, dass diese auf die Durchstechung des Grundgewebes hinweist[17], was notwendigerweise beim Sticken vorkommt.

 

Banck-Burgess vertritt hingegen die Meinung, das Muster des Textils aus Irgenhausen sei bereits während des Webens in das Gewebe eingearbeitet worden[18]. Sie beruft sich dabei auf Untersuchungen von Hildegard Igel, die mit der Methode der experimentellen Archäologie arbeitete. Diese geht davon aus, dass das Einarbeiten der farbigen Musterfäden für den Webeprozeß kein Problem gewesen sei. Zum anderen gebe es nur sehr wenige Fäden, deren Vernähung sichtbar sei, was beim Sticken jedoch unweigerlich vorkäme. Auf der Rückseite des Schachbrettmusters gebe es zahlreiche weitergeführte Fäden (gemeint: der jeweils nicht auf der Vorderseite erscheinenden Farbe), was beim Sticken wegen der Garnverschwendung vermieden worden wäre. Die von Rast-Eicher als Einstichlöcher identifizierten Durchstiche des Grundgewebes erklärt Igel mit der Korrektur von Webfehlern, bei der einzelne Webfäden herausgezogen und ersetzt worden seien[19]. Somit kommt sie zu dem Schluss, dass „die Musterfäden […] während des Webens in vertikaler, horizontaler und diagonaler Richtung eingeschlungen [wurden]. Diese Art der Herstellung wird als „Soumak“ bezeichnet und wurde viele Jahrhunderte später auch bei den frühkeltischen Textilien angewandt. In seiner Herstellungstechnik ist das Gewebe unter den Pfahlbautextilien bisher einzigartig, zeigt aber zugleich auch schlaglichtartig, wie hochstehend die Weberei in dieser Zeit war[20].

 

Ein weiteres Beispiel für eine „echte“ Stickerei, die eine Kontroverse ausgelöst hat, stammt aus einem Grabfund der Jüngeren Eisenzeit in  Nové Zamky (Slowakei). Es handelt sich um ein „leinwandbindige[s] Gewebe […] aus Flachs […]mit sehr ausgeprägte{n] Einstichlöcher[n], in denen sich noch teils Stickfäden aus roter Wolle erhalten haben. Entlang der Stichführung sind Verziehungen des Stoffes zu beobachten. […]Das Muster […] wurde als S-Muster bzw. als ineinandergreifende Trompetenmotive beschrieben. Das gestickte Motiv erscheint kurviger als die stark geometrischen eingewobenen Muster.“[21]

 

 

Gesticktes Gewebe aus Nové Zamky, Slowakei

 

Als ein weiteres Beispiel für dekorative Stickerei nennt Grömer ein Gewebe aus Hallstatt. Hier wurde ein rechteckiger Stoffteil in ein vorhandenes Gewebe eingesetzt. Die Naht wurde auf der sichtbaren Seite mit einem dichten Schlingenstich, der in blau und weiß ausgeführt wurde, abgedeckt. An der Rollsaumkante findet man vier Reihen mit ebenfalls in blau und weiß ausgeführtem Stielstich[22]

 

 

Hallstatt Salzbergwerkfund. Gewebe mit Ziernaht, Ältere Eisenzeit

 

Angesichts dieser Funde und der gegensätzlichen Auffassungen in der Wissenschaft definiert Banck-Burgess den Begriff „Stickerei“, indem sie zwischen ornamentaler Stickerei und funktionaler Stickerei unterscheidet. Ornamentale Stickerei ist demnach auf einen Stoffgrund aufgebracht, der auf die Funktion als Träger einer Dekoration reduziert ist. Funktionale Stickerei hingegen kann konstruktive Elemente wie z.B. einen Zwickel oder auch Ausbesserungen eines Stoffes verdecken oder auch Stoffkanten am Ausfransen hindern. In allen diesen Fällen kann die funktionale Stickerei zufälligerweise und gleichzeitig auch dekorativ sein, ohne dass der Stoffgrund auf eine Trägerfunktion reduziert wird[23]. Banck-Burgess stellt kategorisch fest: „Prähistorische Textilien waren keine Verzierungsträger.“[24] Folgt man dieser Definition,  gibt es scheinbar in der Tat in Mitteleuropa bis zur Zeitenwende keine Stickereien, da die Menschen offenbar der Verzierung mit Webtechniken den Vorrang gaben. Gründe hierfür müssen ebenso spekulativ bleiben wie die Behauptung von Banck-Burgess letztlich unbewiesen und auf ihrer eigenen Definition beruhend, zumal es unlogisch wäre, Ausbesserungen und Nähte mit dekorativen Stichen zu versehen, wenn man hier keine Verzierung anbringen wollte. Insofern scheint die Unterscheidung von Banck-Burgess etwas hergeholt. Angesichts der kontroversen Auffassungen der Wissenschaft kann man nur mit äußerster Vorsicht das erste Vorkommen des Kreuzstichs in Mitteleuruopa dem Textilgewebe von Irgenhausen zuordnen.

 

Unbestritten ist jedoch, dass es generell in der mitteleuropäischen Ur- und Frühgeschichte bevorzugt wurde, Verzierungen von Stoffen durch Einweben oder Einwirken vorzunehmen, so dass Stickereien nur äußerst selten vorkommen.

 



[1] Grömer, Karina: COLOUR, PATTERN AND GLAMOUR. TEXTILES IN CENTRAL EUROPE 2000-400 BC., S. 11.- In: J. Ortiz, C. Alfaro, L. Turell and M.J. Martínez (Hrsg.), Textiles, Basketry and Dyes in the Ancient Mediterranean World. Proceedings of the Vth  International Symposium on Textiles and Dyes in the Ancient Mediterranean World (Montserrat, 19-22 March, 2014), Valencia 2016, S. 11-17.

[2] Benguerel, Simone/Brem, Hansjörg u.a., Gesponnen, geflochten, gewoben. Archäologische Textilien zwischen Bodensee und Zürichsee, Amt für Archäologie des Kantons T hurgau, Frauenfeld 2010, S. 18 f.

[3] Ebda, S. 7

[4] Geihseder, Agnes: Die Geschichte der Stickkunst. Eine historische Übersicht über Entwicklung und Techniken, Linz 2012,  https://www.grin.com/document/308132 [abgerufen am 11.11.2019]

[5] Mautendorfer, Helga: Genähtes aus dem prähistorischen Hallstatt, S. 41-  In: Peter Bichler, Karina Grömer, Regina Hofmann-de Keijzer, Anton Kern and Hans Reschreiter (Hrsg.), "Hallstatt Textiles" Technical Analysis, Scientific Investigation and Experiment on Iron Age Textiles, Oxford 2005; S. 41-54

[6] Grömer, Karina: Prähistorische Textilkunst in Mitteleuropa. Geschichte des Handwerkes und Kleidung vor den Römern, Naturhistorisches Museum Wien, Wien 2010, S. 187 f.

[7] Grömer, Karina: Prähistorische Textilkunst, a.a.O., S. 203

[8] Mautendorfer, Helga: a.a.O., S. 41

[9] Grömer, Karina: Prähistorische Textilkunst, a.a.O., S. 8

[10] Banck-Burgess, Johanna: ‘Nothing like Textiles’: Manufacturing Traditions in Textile Archaeology.- In: Światowit, LVI ( 2017), S. 17

[11] Benguerel, Simone/Brem, Hansjörg u.a.: Gesponnen, geflochten, gewoben., a.a.O., S. 72

[12] Banck-Burgess, Johanna: Wissensvermittlung auf dem Prüfstand Ein Beitrag experimenteller Archäologie zur Textilarchäologie- In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg  1 (2017), S. 48

[13] Grömer listet in Grömer, Karina: TEXTILES: PATTERN, STRUCTURE, TEXTURE, AND DECORATION.- In: LISE BENDER JØRGENSEN, JOANNA SOFAER, MARIE LOUISE STIG SØRENSEN,  CREATIVITY IN THE

BRONZE AGE. UNDERSTANDING INNOVATION IN POTTERY, TEXTILE, AND METALWORK PRODUCTION, Cambridge 2018, S. 247-262  auf S. 260 weitere Funde mit Stickereien auf: „Embroidery has also been found on a number of Bronze Age textiles from northern Europe: a blouse from the female oak- log burial at Skrydstrup, Denmark, was extensively embroidered around the neck opening and on both sleeves […]); similar decoration was found in two other female burials from Denmark – Melhøj and Emmedsbo Mark […]and in a female burial from Flintbek in Schleswig- Holstein, northern Germany […].“

[14] Grömer, Karina: Prähistorische Textilkunst in Mitteleuropa. Geschichte des Handwerkes und Kleidung vor den Römern, Naturhistorisches Museum Wien, Wien 2010, S. 182 und Karina Grömer, COLOUR, PATTERN AND GLAMOUR, a.a.O., S. 15 

[15] Grömer, Karina: Prähistorische Textilkunst, a.a.O., S. 207

[16] Grömer, Karina: Prähistorische Textilkunst, a.a.O., S. 190

[17] Banck-Burgess, Johanna: ´Nothing like Textiles`, S. 15

[18] Banck-Burgess, Johanna: Wissensvermittlung auf dem Prüfstand Ein Beitrag experimenteller Archäologie zur Textilarchäologie.- Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, 2017, S. 51

[19] Vgl. Banck-Burgess, Johanna: `Nothing like Textiles`, a.a.O., S. 15.f.

[20] Banck-Burgess, Johanna & Igel, Hildegard: Detailreich – das gemusterte Gewebe aus Pfäffikon-Irgenhausen ∙ Very Detailed – the Patterned Fabric from Pfäffikon-Irgenhausen, https://books.ub.uni-heidelberg.de/propylaeum/reader/download/643/643-30-90375-1-10-20200923.pdf [abgerufen am 25.7.2022]

[21] Grömer, Karina: Prähistorische Textilkunst, a.a.O., S. 192

[22] Grömer, Karina: Prähistorische Textilkunst, a.a.O., S. 193

[23] Vgl. Banck-Burgess, Johanna: ´Nothing like Textiles`, a.a.O., S. 16

[24] Banck-Burgess, Johanna: Wissensvermittlung auf dem Prüfstand, a.a.O., S. 51