Verbreitung und Funddichte des Kreuzstichs im Mittelalter

 

 

Kreuzstichstickerei bedarf als Grundstoff eines gleichmäßig gewebten Stoffes, d.h. eines Stoffes mit einer gleichmäßigen Zahl von Kett- und Schussfäden, der die Möglichkeit bietet, die Fäden, über die die Stickstiche ausgeführt werden, zu zählen.  Dafür kommt vor allem Leinen in Betracht, das bereits die Germanen für Kleidung nutzten[1].  Flachs, aus dem letztlich Leinenfäden gesponnen wurden, ist eine sehr alte Kulturpflanze, die in ganz Nordeuropa verbreitet war. Der Webvorgang konnte Leinentücher unterschiedlicher Dichte erzeugen, so dass die Einsatzmöglichkeiten von Leinen vielfältig waren.  Leinentuch wurde während des Mittelalters sowohl in der bäuerlichen Eigenwirtschaft als auch in großen Mengen für den Handel durch zünftig gebundene Handwerker in den Städten hergestellt.

 

Das Vorhandensein und die leichte Zugänglichkeit des Grundstoffes legen eigentlich nahe, dass fadengebundene Zählstickstiche nicht viel jünger seien als die Kenntnis der Grundstoffherstellung.  Dennoch stellt sich bei der Suche heraus, dass „der Kreuzstich […] in mittelalterlichen Stickereien und denen der Renaissance zwar bekannt [war] und auch schon als ´Creutzstich´bezeichnet […] in den erhaltenen Stickereien aber selten angewandt“[2] wurde.

 

Die vorgenannten bestickten Tücher stammten aus der Zeit zwischen 1260 und dem späten 14. Jahrhundert. Außer den vorgestellten Tüchern lassen sich nur wenige bestickte Textilien ausmachen, in denen auch der Kreuzstich verwendet wurde. Möglicherweise wurde eine Decke, deren Verwendungszweck ich nicht herausfinden konnte, die aber aufgrund ihrer Maße eine Altardecke gewesen sein könnte, in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts im Kloster Isenhagen mit Kreuzstich bestickt. Jedenfalls lässt das vorfindbare Foto, das einen Ausschnitt zeigt, vermuten, dass es sich um Kreuzstich handelte.[3]  Kroos nennt eine Lesepultdecke aus festem, weißem Leinen, die auf die Mitte des 14. Jahrhunderts datiert wird und mit Hexenstich, Kettenstich und wenig Kreuzstich bestickt ist.[4] Ebenfalls auf die Mitte des 14. Jahrhunderts wird eine weitere Lesepultdecke datiert, die in geometrischen Rahmen heraldische Doppeladler zeigt und in Hexen-, Ketten und Kreuzstich bestickt ist.[5] Auch bei einem Antependium aus Hildesheim, das auf 1410/20 datiert wird, ist der Kreuzstich nur eine Sticktechnik unter anderen. Er wird für Rahmenfüllungen neben dem Vorstich und dem Hexenstich verwendet, während für weitere Teile des Antependiums der Überfangstich bzw. Applikationstechnik angewandt wird.[6]

 

 

Ausschnitt Lesepultdecke aus dem Kloster Isenhagen

 

Auch in Europa außerhalb Deutschlands findet man Kreuzsticharbeiten erst ab dem 13. Jahrhundert. Neben anderen Sticktechniken nennt ein Inventar der Kathedrale St. Paul´s von 1295 das sogenannte opus pulvinarium, worunter canvas work, also Kreuzstich, zu verstehen ist[7]. Eine andere Bezeichnung für das opus pulvinarium ist „cushion style“, weil Kreuzstich häufig für „cushions, upon which to sit or to kneel in church, or uphold the mass-book at the altar“[8] sowie für Wappenstickerei[9]  gebraucht wurde.  Coatsworth nennt als Beispiel für opus pulvinarium „an amice with little shields“ aus dem Inventar von St. Paul´s, das der Grund gewesen sein möchte, weswegen opus pulvinarium als eine „appropriate technique for heraldic subjects“ gesehen werde.[10] Als ein weiteres Beispiel einer Kreuzsticharbeit nennt sie ein Kissen, das zu den Grabfunden aus dem Grab des  Erzbischofs von York, Walter de Grey, gehört. Der Erzbischof verstarb 1255, so dass das Kissen vor diesem Datum entstanden sein muss.[11] Ein Stickereifragment aus Gold- und Silberfäden blieb erhalten, während sich der Grundstoff, vermutlich Leinen, aufgelöst hatte. Aus den gefundenen Fragmenten wurde das Muster des Kissens rekonstruiert.[12]

 

 

Rekonstruktion des Kissenmusters aus dem Grab des Erzbischofs von York, Walter de Gray

 

Kreuzstich wurde auch für den Saum des Syon Cope verwendet, das von Bradley auf 1225[13], vom Victoria & Albert Museum jedoch auf 1310-1320[14] datiert wird. Ungewöhnlich scheint hier zu sein, dass der Kreuzstich auf einem Werk des opus anglicanum auftaucht, auch wenn es sich nur um die Einfassung der Hauptstickerei handelt. Coatsworth nennt als ein weiteres Beispiel für canvas stitches ein Altartuch[15], das auf der Rückseite mit der Inschrift „Donna Johanna Beverlai monaca me fecit“ versehen ist [16] und wahrscheinlich aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt. Coatsworth ordnet dieses Stück dem canvas work zu; es ist zwar auf Leinengrund gearbeitet, weist jedoch nur „diagonal, tent, plait and stem stitches, detached twisted buttonhole stitch over padding, laid and couch work“[17], aber keinen Kreuzstich auf. Entweder es liegt hier eine irrtümliche Zuordnung zu, oder aber der Terminus opus pulvinarium oder canvas work ist nicht mit Kreuzstich gleichzusetzen.

 

 

Ausschnitt des Syon Copes mit Teilen des Saums

 

Altartuch der Johanna Beverlai

 

Insgesamt scheint mir die Anzahl der ermittelbaren Stickarbeiten des Mittelalters, in denen der Kreuzstich verwendet wurde, recht gering zu sein. Es erstaunt auch, dass vor dem 13. Jahrhundert offensichtlich das Sticken im Kreuzstich nicht üblich war, zumal der Kreuzstich im Vergleich zu Überfangarbeiten bzw. Unterfangarbeiten relativ einfach zu sticken ist. Daher erhebt sich die Frage, ob es vielleicht mehr Kreuzsticharbeiten gab als heutzutage bekannt sind bzw. in der Literatur erwähnt werden. Leider beteiligen sich nicht alle Museen, insbesondere nicht die kleineren, an einer Digitalisierung der vorhandenen Kunstwerke, so dass diese online einsehbar wären und man die Museen entsprechend anschreiben könnte. Immerhin findet sich im Internet der Bildindex der Kunst und Architektur, der Schwarz-Weiß-Fotografien von textilen Kunstwerken bietet.[18] Die jeweils zugehörigen Angaben  lassen jedoch nicht immer erkennen, wo das jeweilige Kunstwerk aufbewahrt bzw. gezeigt wird; manchmal existieren auch die als Aufbewahrungsort genannten Museen nicht mehr. Die Fotografien zeigen etliche Stickereien, lassen jedoch nur in sehr wenigen Fällen die Sticktechnik erkennen.

 

Natürlich ist in diesem Zusammenhang auch die Frage nach Gründen für eine geringe Funddichte zu stellen. So stellt Heidrich heraus, dass „die Anzahl der uns erhaltenen mittelalterlichen Textilien aus dem Zeitraum bis zum Ende des 11.Jahrhunderts [stammen und] ihr Überleben dem Gebrauch im sakralen Bereich verdanken“[19].   Sakrale Textilien wurden im Mittelalter häufig bewusst aufbewahrt und blieben in Kirchenschätzen erhalten, zumal sie häufig „durch Segnungen oder als Reliquien unter einem besonderen Schutz“[20] standen, wodurch sie der Weiterverwertung entgingen.[21] Viele von ihnen wurden „ über die Jahrhunderte hinwegbewahrt und gepflegt, teilweise sogar mit jahrhundertelanger Dokumentation von Eingriffen oder Erhaltungsmaßnahmen.“[22]  Der Erhaltungszustand von Textilien ist natürlich abhängig von der Art der Aufbewahrung. Insbesondere Textilien, in die Verstorbene bei Gruftbestattungen gekleidet wurden bzw. die zur Ausstattung des Sarges gehörten, blieben häufig relativ gut erhalten. Dies ist vor allem der Fall bei der Bestattung von hohen Würdenträgern, aber generell auch bei wohlhabenden Menschen, die sich eine Gruftbestattung leisten konnten. Grüfte ermöglichten „die gewünschte, möglichst weitgehende körperliche Erhaltung des Leichnams, um die Auferstehung am Jüngsten Tage zu erleichtern.“[23] Im Gegensatz zu Erdbestattungen verhinderten „Trockenheit, stetiger Luftzug und der Ausschluss von Tierbefall [weitgehend] den Zerfall von Textilien“[24]. Gelegentlich zerfielen auch nur Teile eines Textils, wie man an dem in der Gruft des Erzbischofs von York, Walter de Grey, sehen kann. Wie erwähnt, blieb von dem in der Gruft gefundenen Kissen nur die Stickerei erhalten, während sich der darunter befindliche Grundstoff aufgelöst hatte.

 

Eine geringe Funddichte kann auch durch äußere Ereignisse bedingt sein. So wird allgemein angenommen, dass in der Pestwelle 1346 bis 1353, die unter dem Namen „Schwarzer Tod“ bekannt wurde und der Schätzungen zufolge zwischen 33 % und 60 %  der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel[25], die Herstellung von Stickereien deutlich zurückging[26], zumal die Pest die städtische Bevölkerung und damit auch viele Handwerker als Hersteller von Stickereien und wohlhabende Bürger als Käufer von Stickereien in besonderem Maße traf. Einen Beitrag dazu dürfte auch die spätmittelalterliche Agrarkrise geleistet haben, die ein wesentlicher Faktor für die Entstehung von Wüstungen war und mit dem Rückgang des Wohlstands der adligen Grundherren einherging. Wie andere Kunstwerke wurden Stickereien auch immer wieder durch Brände, Aufstände und Kriege und die damit einhergehenden Zerstörungen vernichtet, zuletzt wohl in großem Stil am Ende des Zweiten Weltkrieges wie bereits für den Fall der Altardecke aus Fulda dargelegt. Es liegt in der Natur der Sache, dass auch Abnutzung und Verschleiß für den Verlust von bestickten Textilien eine Rolle spielten.[27] Eine deutliche Reduzierung der Bestände dürfte auch der Reformation zuzuschreiben sein. Klöster und Kirchen wurden häufig ihres Reichtums beraubt oder aufgehoben, so dass das Inventar in Fremdbesitz, häufig den der jeweiligen Landesherren, überging. Um die Reformationskriege mitzufinanzieren, wurden etliche der kostbar bestickten Textilien auseinandergetrennt oder verbrannt, um die kostbaren Gold- und Silberfäden und die Edelsteine zu gewinnen.[28] Von den verbleibenden fielen vermutlich etliche dann der mangelnden Pflege in weltlicher Hand zum Opfer.

 

Aufgrund dieser Überlegungen muss unklar bleiben, ob der Kreuzstich häufiger verwendet wurde als die erhaltenen Stickereien vermuten lassen.

 



[1] Tacitus, Germania 17: Nec alius feminis quam viris habitus, nisi quod feminae saepius lineis amictibus velantur eosque purpura variant […]

[2] Uta-Christiane Bergemann, Europäische Stickereien 1250-1650, Regensburg 2019 (=Kataloge des deutschen Textilmuseums Krefeld Bd. 3), S. 295

[3] https://i.pinimg.com/736x/f4/ff/73/f4ff7346b7b934b95c3d8c9796899ee1--medieval-embroidery-linen-tablecloth.jpg [abgerufen am 15.6.2023] Die Bildunterschrift lautet: Hankensbüttel, Kreisheimatmuseum Gifhorn-Nord, Brauhaus Kloster Isenhagen, Niedersachsen?, 2. H. 13. Jh: Tischdecke, Leinen, gestickt, Breite: 115 cm, Länge 315 cm, Detail Neg.-Nr. 509.247, Aufnahme 1961/1964?

[4] Kroos, Renate: Niedersächsische Bildstickereien des Mittelalters, Berlin 1970, S. 124

[5] Kroos, Renate: a.a.O., S. 143

[6] Kroos, Renate: a.a.O., S. 135

[7] Pamela: Embroidery. A History, London 1991, S. 24 und Eileen J. Bennett, “Let None Despise The Criss Cross Row”.- In:  Cross Stitch Sampler Magazine, 1993 = http://www.thesamplerhouse.net/blog/category/sampler-history  [abgerufen am 28.11.2019]

[8] Rock, Daniel: Textile Fabrics. A Descriptive Catalogue of the Collection of Church-vestments, Dresses, Silk Stuffs, Needlework and Tapestries in the South Kensington Museum, London 1870, p. xcvi

[9] Ebda.

[10] Coatsworth, Elizabeth: Opus what? The Textual History of Medieval Embroidery Terms and Their Relationship tot he Surviving Embroideries c. 800-1400.- In: Maren Clegg Hyer/Jill Frederick (Hrsg.): Textiles, Text, Intertext. Essays in Honor of Gale R. Owen Crocker, Woodbridge 2016,  S. 61

[11] Coatsworth, Elizabeth: a.a.O., S. 62

[12] https://trc-leiden.nl/trc-needles/individual-textiles-and-textile-types/fragments-and-panels/tomb-of-archbishop-walter-de-gray#:~:text=The%20tomb%20was%20opened%20in,%2C%20perhaps%20linen%2C%20had%20disintegrated. [abgerufen am 15.6.2023]

[13] In Praise of the Needle. Bradley, His Book, Vol. 2, No. 3 (Jan., 1897), pp. 86-89

[14] https://collections.vam.ac.uk/item/O93171/the-syon-cope-cope-unknown/ [abgerufen am 14.6.2023]

[15] Coatsworth, Elizabeth: a.a.O., S. 62

[16] https://trc-leiden.nl/trc-needles/regional-traditions/europe-and-north-america/embroideries/opus-anglicanum [abgerufen am 14.6.2023]

[17] https://collections.vam.ac.uk/item/O111536/frontal-band-unknown/ [abgerufen am 15.6.2023]

[18] https://previous.bildindex.de/#|home [abgerufen am 14.11.2021]

[19] Heidrich, Ingrid: Wandbehänge und Decken des Frühmittelalters (9.-11.Jahrhundert).- In: Gerd Althoff, Hagen Keller, Christel Meier (Hrsg.): Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, 40. Band, 2006, S. 103

[20] Heitmeyer-Löns, Sabine: Die Soester Lesepultdecke - restauriert für die Zukunft?.- In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Heimatpflege Soest, herausgegeben von Norbert Wex unter Mitarbeit von Dirk Elbert, Gerhard Köhn und Ulrich Löer, Heft 121 (2009), S. 79

[21] Vgl. Kania, Katrin: Kleidung im Mittelalter. Materialien – Konstruktion – Nähtechnik. Ein Handbuch, Diss. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 16 f.

[22] Kania, Katrin: a.a.O., S. 21

[23]  Ströbl, Andreas:  Sarg und Grabmal: Wechselspiele zwischen Repräsentation und Verhüllung. EthnoScripts: Zeitschrift für aktuelle ethnologische Studien, 19(1) 2017, S. 22

[24]  Ott, Stella: Textilfunde in Grüften des Bamberger Doms.- In: Nelo Lohwasser, Rainer Schreg (Hrsg.): Kleine Funde, große Geschichten. Archäologische Funde aus dem Bamberger Dom. Begleitheft zur Ausstellung im Historischen Museum Bamberg, Bamberg 2021, S. 98

[25] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzer_Tod [abgerufen am 16.6.2023]

[26] Vgl. Costume & Textile Association of Norwich 20th Anniversary Issue: Embroidery through the ages, November 2009 https://www.ctacostume.org.uk/uploads/1/1/9/5/119530260/2009_anniversary_issue_standard_res.pdf  [abgerufen am 15.5.2023]

[27] Vgl. Kroos, Renate: a.a.O., S. 20

[28] Hunter, Clare: Threads of Life. A History of the World Through the Eye of a Needle, Lodon 2019, S. 22 beschreibt dies für die englische Reformation; die Beschreibung dürfte jedoch auch auf die Vorgänge in Deutschland zutreffen, zumal Deutschland durch die Reformationskriege und den 30jährigen Krieg weit mehr betroffen war als England.